Wie fern ist die vermeintliche Zukunft noch?
Scrollst Du in diesen Tagen durch Deine Nachrichten, könntest Du meinen, versehentlich das Drehbuch für die nächste Staffel "Black Mirror" geöffnet zu haben. In China führen Chirurgen über tausende Kilometer hinweg Operationen per 5G und Roboterarm durch. In London führt die Live-Gesichtserkennung im öffentlichen Raum zu über 700 Verhaftungen. Und auf den Straßen von New York, der Stadt, die niemals schläft, lernen die ersten Robotaxis das Fahren.
Diese Schlagzeilen sind keine fernen Zukunftsvisionen mehr, die wir mit einem wohligen Schaudern als Fiktion abtun können. Das ist die Welt, in der wir aufwachen. Die Fiktion ist zum Bauplan für unsere Gegenwart geworden. Die Frage ist nicht mehr, ob diese Technologien unsere Gesellschaften prägen, sondern wie wir ihre Einführung gestalten.
Das Süße: Die Neudefinition des Möglichen
Die süße Seite dieser Revolution ist weit mehr als nur Bequemlichkeit oder Effizienz. Sie rüttelt an den Grundfesten dessen, was wir für möglich halten. Die 5G-gesteuerte Fern-Operation löst nicht nur ein logistisches Problem, sie entkoppelt menschliche Exzellenz von der Tyrannei des physischen Ortes. Stell Dir das einmal vor: Die fähigsten Hände der Welt können überall dort heilen, wo ein Datenstrom fließt. Das ist nicht nur ein Segen für abgelegene Regionen, es ist der Beginn einer Ära, in der Expertise zu einer allgegenwärtigen, abrufbaren Ressource wird – wie Wasser aus dem Hahn.
Ähnlich verhält es sich mit den autonomen Flotten in unseren Städten. Ja, sie versprechen weniger Unfälle und mehr Freizeit. Doch der tiefere, süßere Kern ist die Rückeroberung des urbanen Raums für den Menschen. Eine Stadt, die nicht länger von Blechlawinen und Parkflächen dominiert wird, ist eine Stadt, die neu atmen kann. Sie wird zu einer Leinwand für Parks, für Begegnungszonen, für eine Lebensqualität, die wir unseren Großstädten längst abgesprochen hatten. Das Robotaxi ist nur der Vorbote einer stillen, urbanen Renaissance. Selbst die umstrittene Gesichtserkennung birgt in ihrer Idealform ein Versprechen: die Hoffnung auf eine Justiz, die nicht auf dem Zufall eines Augenzeugenberichts beruht, sondern auf der unbestechlichen Logik von Daten – eine Objektivität, die menschlichem Ermessen oft fehlt.
Das Bittere: Die unsichtbare Umerziehung
Doch jede dieser süßen Früchte wächst auf einem potenziell giftigen Baum. Der bittere Geschmack dieser Entwicklungen liegt nicht in dem, was sie uns an offensichtlichen Risiken bringen, sondern in dem, was man uns unmerklich nehmen könnte, wenn wir nicht aktiver gestalten.
Die Fern-Operation, die den genialen Chirurgen überall verfügbar macht, schafft gleichzeitig eine neue, gläserne Abhängigkeit. Der menschliche Körper wird zum digitalisierten Objekt, dessen Schicksal an der Stabilität eines Netzwerks, der Integrität eines Codes und der Sicherheit vor Cyberangriffen hängt. Der Arzt am anderen Ende der Welt mag die Kontrolle über den Roboterarm haben, aber wer hat die Kontrolle über das System, das ihn steuert? Wir tauschen die Begrenztheit des physischen Raums gegen die ungleich schwerer zu durchschauende Zerbrechlichkeit digitaler Infrastrukturen.
Das autonome Fahrzeug, das uns so sicher durch die Stadt chauffiert, ist mehr als nur ein Transportmittel. Es ist ein Lehrer, der uns subtil zu Passagieren unseres eigenen Lebens umerzieht. Indem es uns die Verantwortung für die komplexe Aufgabe des Fahrens abnimmt, trainiert es uns darauf, Urteilsvermögen und Voraussicht an Algorithmen zu delegieren. Was passiert mit einer Gesellschaft, deren Mitglieder verlernen, komplexe Situationen selbst einzuschätzen und Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen? Die Bequemlichkeit heute ist der potenzielle Verlust von Autonomie morgen.
Und die Gesichtserkennung? Ihre größte Gefahr ist nicht der "Big Brother"-Staat, den wir aus Dystopien kennen. Die bittere Pille ist subtiler: Es ist die schleichende Normalisierung der permanenten, anlasslosen Überwachung. Eine Gesellschaft, die sich daran gewöhnt, permanent gesehen und bewertet zu werden, ist eine Gesellschaft, die Konformität belohnt und Abweichung bestraft. Der öffentliche Raum hört auf, ein Ort der freien Entfaltung zu sein, und wird zu einer Bühne, auf der jeder Schritt aufgezeichnet und potenziell gegen uns verwendet werden kann. Das Resultat ist nicht zwangsläufig Unterdrückung, sondern eine viel tiefgreifendere Selbstzensur. An dieser Stelle empfehle ich die Doku "Total Trust". Sie zeigt eindrucksvoll, wie sich die Gesellschaft und die sozialen Beziehungen unter solchen Bedingungen radikal ändern.
https://www.youtube.com/watch?v=NUNS2ksp65M
Ein Kompass für das neue Jetzt
Diese Schlagzeilen sind keine losgelösten Phänomene. Sie sind Symptome einer tiefgreifenden Veränderung, die uns alle betrifft. Sie werfen Fragen auf, die weit über das Technische hinausgehen und den Kern unseres menschlichen Zusammenlebens berühren.
Genau an diesem Punkt setzen die Geschichten in meinem Roman "Bittersüße Bytes" an. Sie sind keine Blaupausen oder Prophezeiungen, sondern literarische Stresstests für unsere Gegenwart. Sie nehmen diese technologischen Realitäten, wie wir sie gerade erleben, und fragen: Was macht das mit uns als Menschen? Was passiert, wenn diese Systeme nicht nur funktionieren, sondern Teil unseres Alltags, unserer Beziehungen und unserer intimsten Entscheidungen werden? Die Antworten können nur wir als Gesellschaft geben. Wir müssen nachdenken und den aktiven Dialog führen, damit der bevorstehende technologische Wandel ein positiver wird.
Diskutiere mit: Was überwiegt für Dich bei diesen Technologien? Die süßen Versprechungen oder die bitteren Risiken? Schreib mir Deine Gedanken in die Kommentare!
Nimm teil: Im Nachgang zur Frankfurter Buchmesse starte ich auf Instagram in den nächsten Tagen die Aktion #BittersüßeRealität. Wir werden gemeinsam aktuelle Schlagzeilen sammeln und sie durch die "bittersüße" Brille analysieren. Folge mir auf Instagram, um nichts zu verpassen:
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Lies das Buch: Wenn Du bereit bist, tiefer in die menschlichen und emotionalen Konsequenzen unserer technologischen Gegenwart einzutauchen, dann ist "Bittersüße Bytes" der Kompass, den Du brauchst:
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